Der Niedergang der TV-Nachrichten
Tags: TV, Medienforschung, Change, Studie
Eine bösartige Überschrift, noch dazu falsch - bezogen auf heute.
Schließlich ist TV noch immer und wie schon in den vergangenen 60 Jahren das ‚Leitmedium‘ in Deutschland und wird es auch noch einige Jahre bleiben.
Als Facebook Anfang des Jahres stolz berichtete, 1 Milliarde User des Netzwerks würden weltweit täglich 100 Millionen Stunden Video sehen, dann klingt das zunächst beeindruckend. Es wirkt aber geradezu mickrig, wenn man diese Zahl mit den TV-Zuschauern allein in den USA vergleicht: 1 Milliarde Stunden verbringen sie täglich vor dem TV.
Die aktuelle Kräfteverteilung ist demnach klar. TV rules!
Anders sieht es aus, wenn man sich die Zahlen und Entwicklungen genauer ansieht, wie das Reuters Institute im aktuellen Bericht „What is happening to Television News?" auf den ich mich hier zumeist beziehe.
It’s the end of the world as we know it …
Trotz aller digitalen Veränderungen in den vergangenen 20 Jahren blieb die tägliche Nutzungszeit für TV weitgehend stabil, legte sogar noch zu. Seit einigen Jahren nun verändert sich das Bild. Verdrängungseffekte werden sichtbar, TV verliert in den entwickelten Märkten an Zuspruch.
In den USA sank die TV-Nutzungszeit gesamt zwischen 2012 und 2016 um 15%, in Großbritannien um 10%. Ähnliche Werte wurden für Skandinavien gemessen.
Während in Redaktionskonferenzen noch immer der Marktanteil im Fokus steht, wird übersehen, dass ein stabiler Marktanteil vielfach mit weniger Zuschauern erreicht wird. Zuschauer gehen verloren – und keiner merkt’s so richtig, weil die Aufmerksamkeit nicht dem Kunden, sondern dem Konkurrenten gilt.
So stürzte z.B. die britische ITV Evening News von 3,4 Millionen Zuschauer (2010) auf 2 Mio. (2015), das deutsche RTL aktuell im gleichen Zeitraum von 4 Mio. auf 3,3 Mio.
Jung und alt: Die polarisierte Medienwelt
Was oft genug belegt wurde: Die hohe TV-Nutzung (vor allem bei Nachrichten) wird getragen von den Älteren. Das Durchschnittsalter der TV-Zuschauer liegt in allen entwickelten Ländern um 60 Jahre – Tendenz: steigend.
Jüngere aber, die in der digitalen Welt aufwachsen, sind gerade dabei, sich von klassischem linearen TV zu verabschieden. Unterhaltungsangebote werden zunehmend via Netflix und Amazon genutzt.
In Großbritannien sank die tägliche lineare TV-Nutzungszeit der 16-24jährigen innerhalb von nur 3 Jahren von 157 auf 124 Minuten, also um 21%. In den USA lag der Rückgang im gleichen Zeitraum bei 29%.
Die Reichweite klassischer TV-Nachrichtensendungen für Zielgruppen unter 40 Jahren liegt auch in Deutschland längst im einstelligen Bereich – Tendenz weiter fallend.
Digital Natives nutzen nicht nur weniger Nachrichten (auf allen Plattformen), sondern setzen vor allem auf digitale Angebote (Mobile, Social Media, Video on demand, …).
TV-Nachrichten-Nutzung 2013 – 2015 in ausgewählten Märkten:
Was wir derzeit erleben, ist eine extreme Segmentierung des Nachrichten-Marktes: Zielgruppen, Endgeräte und Plattformen finden immer weniger gemeinsame Nenner, die (ohnehin schwierige) Idee von Content-Strategien über verschiedene Plattformen funktioniert immer weniger: Für jede Zielgruppe, jede Plattform müssen eigene Formen und Themen angeboten werden, um erfolgreich zu sein.
Für klassische Anbieter - egal ob aus TV oder Print - heißt das, dass sie ihre Vorteile immer schlechter ausspielen können. Starke Journalisten, eingespielte Workflows, eine starke Kundenbasis in einem Medium können sogar zum Hindernis werden, wenn sie die Entwicklung neuer Produkte und die Erschließung neuer Märkte behindern.
Exkurs: konservative deutsche Kunden
Deutsche Mediennutzer zeigen sich im internationalen Vergleich besonders stabil und konservativ:
Deutsche sehen im Verhältnis viel fern.
Sie nutzen relativ wenig Social Media.
Sie nutzen Medien eher passiv, interagieren weniger als andere.
Sie nutzen weniger Online-Video.
Sie sind sehr markentreu.
Die öffentlich-rechtlichen Anbieter haben eine relativ starke Marktposition.
Die Ursache sehen Forscher vor allem in der Altersverteilung mit vergleichsweise mehr älteren Bewohnern in Deutschland.
Entspannt zurücklehnen? Bitte nicht!
Traditionelle Medien können zunächst aufatmen: Veränderungen der Nachfrage werden langsamer und später wirksam als in anderen Ländern.
Der Veränderungsdruck auf Medienunternehmen ist zunächst vergleichsweise schwach, kommt später aber umso schneller und stärker.
Digitale Pioniere auf Entscheider-Ebene in klassischen TV-Sendern stehen im klassischen Politiker-Dilemma: Eingeleitete Strategien und Maßnahmen wirken mittel- bis langfristig und sind in ihrer Wirkung zunächst kaum messbar. Beurteilt aber werden Entscheider von Stakeholdern nach kurzfristigen, sichtbaren Erfolgen.
„If television news providers do not adapt to these changes, they risk irrelevance."
Plattformstrategie - Eine Neuorientierung darf nicht begrenzt bleiben auf Beitrags- oder Sendungs-Formatierung im TV, sondern sie muss den gesamten Nachrichtenkosmos im digitalen Zeitalter berücksichtigen. Letztlich geht es darum, eine integrierte Strategie für alle Plattformen zu entwickeln, die den eigen Stärken, den Anforderungen der einzelnen Zielgruppen, den Potenzialen und Nutzungssituationen einzelner Vertriebswege und der eigenen Markt-Positionierung entspricht.
Getrennte Zielgruppen - Für ältere Zuschauer ist Nachrichtenkonsum in hohem Maße habitualisiert. An ihren Sehgewohnheiten sind die traditionellen TV-Formatierungen orientiert. Formatierungen zu ändern, um dem Geschmack eines jüngeren Publikums besser zu entsprechen und damit die Zuschauerbasis zu verbreitern, wird nur begrenzt funktionieren, wie viele Beispiele aus der Radio-Welt zeigen. Das Stammpublikum der Älteren wird verunsichert, sie suchen sich Alternativen. Zudem: Jüngere haben sich bereits weitgehend von der Plattform TV verabschiedet und werden nicht alleine wegen attraktiverer Formen zum linearen Angebot zurückfinden.
„Schaufelware" - Bei vielen TV-Anbietern wurden (werden?) digitale Produkte als ergänzendes ‚Zweitgeschäft‘ gesehen. Der jahrelange Versuch, „unsere hochwertigen TV-Produkte" online, on demand, mobil verfügbar zu machen, um digitale Zielgruppen zu erreichen, ist gescheitert. „Same Sh*t, different screens" funktioniert nicht mehr: Unterschiedliche Zielgruppen, Nutzungssituationen und Plattformen benötigen unterschiedliche Formatierungen. Am deutlichen wird dies sichtbar an derzeit erfolgreichen News-Formatierungen für die mobile Nutzung: „short, sharable, sound off". Dies konsequent umzusetzen bedeutet, Workflows, Rollen und Priorisierungen im gesamten Produktionsprozess erheblich zu verändern.
Noch ist der Markt offen - Netflix, Amazon, Facebook und YouTube setzen mit ihren Unterhaltungsangeboten den klassischen TV-Markt massiv unter Druck und werden ihn weitgehend verdrängen. Netflix etwa will 2016 satte 6 Mrd. $ in Inhalte investieren – ¾ des Gesamt-Etats von ARD und ZDF. Zugleich hat bislang keiner der neuen digitalen Player strategisch nachhaltige Impulse in Richtung Video-Nachrichten entwickelt. Sei es, weil er zu teuer, logistisch zu schwierig oder zu wenig profitabel ist: Für die klassischen Anbieter von TV-Nachrichten bietet das noch die Chance, dieses wichtige Feld zu sichern.
Schlechte Ausgangslage - Viele Klassische TV-News-Anbieter sind denkbar schlecht ausgerichtet auf die Bedingungen des digitalen Marktes: Organisation, Ressourcen, Vertriebswege, Entscheidungsstrukturen – die gesamte Kultur der Unternehmen ist ausgerichtet auf die traditionellen Medien, Produkte, Zielgruppen. Eine starke Differenzierung in der Aufbau-Organisation und extrem langsame Prozesse als Ergebnis jahrzehntelanger Bürokratisierung macht Innovation nahezu unmöglich. Und das in einer Zeit, in der sich technologische Basis und Nachfrage höchst dynamisch und z.T. disruptiv entwickeln: „An incremental approach is not necessarily the right approach to a revolutionary situation." (S. 23)
Dringend gesucht: eine neue Identität - Was TV-News mit klassischen Tageszeitungen vereint: Traditionelle Anbieter benötigen eine Neudefinition und Aktualisierung ihrer Aufgaben und Funktionen in einer veränderten Medienwelt - ein Update mit Bugfixes für die Medienwelt 3.0. Dazu gehört eine verstärkte Kundenorientierung, ein Selbstverständnis als Dienstleister in einem Nachfragemarkt, ein Verständnis für die Bedeutung von Nutzerdaten, eine deutlich höhere Bereitschaft zum Experimentieren, …
Wie sich die Medienlandschaft im Detail in den nächsten 5 oder 10 Jahren verändern wird, kann niemand voraussehen. Eines aber ist sicher: Mit den bestehenden Angeboten und Strukturen und dem gegenwärtigen Veränderungstempo werden einige der jetzigen Platzhirsche dann nicht mehr existieren.