Agile Methoden im Change-Prozess

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Agile Methoden im Change-Prozess

Johannes F. Reichert - Medienzukunft gestalten - Professionelles Changemanagement und Organisationsentwicklung zu Veränderungsprozessen in Medienunternehmen
Veröffentlicht von Johannes F. Reichert in Strategie · 10 Oktober 2020
Tags: StrategieProjektmanagementChange
 
Viele Redaktionen und Sender haben in den vergangenen Jahren damit begonnen, ihre Strukturen und Workflows an die aktuellen Herausforderungen der Medienwelt anzupassen. Crossmediale Arbeitsweisen: Crossmediale Aufbauorganisation, crossmediale Redaktionen, crossmediale Newsrooms werden entwickelt, neue Workflows, neue Job-Profile und Verantwortungen definiert.
 
Mit anderen Worten: Der Laden wird neu sortiert.
 
Wie gestaltet und organisieren die Sender ihre Veränderungsprozesse?

Ich beobachte sehr unterschiedliche Herangehensweisen und will auf ein hilfreiches Instrument hinweisen: Der Cynefin-Framework - ein Instrument zur Identifikation geeigneter Methoden im Rahmen von Veränderungs-Initiativen.

Klassische Projektorganisation
 
Manche Verantwortliche sehen die crossmedialen Herausforderungen vor allem als technische Management-Aufgabe: Strukturen und Workflows müssen neu definiert und umgesetzt werden. Folgerichtig wird eine klassische Projektorganisation etabliert: Das interdisziplinäre Projektteam erarbeitet Vorschläge, über die ein Lenkungsausschuss entscheidet.
 
An geeigneten Stellen werden dabei Experten und externe Berater hinzugezogen: Innenarchitekt/innen für die Gestaltung, IT-Expert/innen für Schnittstellen und gemeinsame Redaktionssysteme, die Personalentwicklung für die Definition des Fortbildungsbedarfs.
 
Auf der Basis dieser Expertise und Entscheidungen werden plausible Zielbilder definiert und ein Umsetzungskonzept entwickelt: Termine, Räume, Fortbildung, Personalentscheidungen, …

Zu einem Zeitpunkt X geht dann die neue crossmediale Struktur ‚live‘ – und muss unter Belastung zeigen, wie realitätsnah die Planungen des Projektteams waren.

Change-Prozess

Manche Entscheider identifizieren im Prozess soziale Risiken, die über ein rein technisch orientiertes ‚Projekt‘ nicht ausreichend adressiert werden: So werden z.B. durch die angestrebten crossmedialen Strukturen häufig psychosoziale Prozesse im Unternehmen tangiert: Langjährige Teams werden auseinandergerissen und neu sortiert. Die absehbare Neuverteilung von Aufgaben und Entscheidungsbefugnissen löst bei vielen Mitarbeiter/innen Ängste aus: Wo finde ich mich dann wieder? Was bedeutet das für meinen Status, meine Kernkompetenzen? Finde ich mich mit meinem Wertsystem und meinen Bedürfnissen in diesem neuen System wieder?

Um diesen Risiken Rechnung zu tragen, werden die betroffenen Mitarbeiter/innen in den Prozess eingebunden. In Workshops werden ihre Anliegen sichtbar gemacht und – so weit es die Projektziele erlauben – für die Umsetzung berücksichtigt.
Die so entstehende neuen Strukturen und Workflows reduzieren den Widerstand der Mitarbeiter/innen gegenüber dem Projekt und vor allem: die Reibungsverluste bei der Umsetzung.

Systemische Organisationsentwicklung

In einem noch weiteren Blick werden Mitarbeiter/innen nicht allein als mögliche Problemträger identifiziert, sondern als wertvolle Ressource im Prozess: Durch ihre Beteiligung  werden nicht nur Widerstände vermieden, sondern sie sichern durch ihre breiten fachlichen Kompetenzen die Entwicklung eines besonders leistungsstarken neuen Modells. Zugleich erhöht sich die Akzeptanz der entwickelten Lösungen deutlich, wenn sie nicht vorgesetzt, sondern gemeinsam entwickelt wurden.

Die Gegenüberstellung dieser methodischen Ansätze soll nicht alternativ verstanden werden, sondern ergänzend: Die Entwicklung z.B. einer neuen IT-Struktur oder Architektur kann nur über spezialisiertes Expertenwissen gelingen.

Im Kern geht es bei einem solchen 'hybriden' Projektmanagement um die Frage, welche Dimensionen der Veränderung im Prozess 'klassisch' odeer 'agil' gesteuert werden sollten. Und damit um die zentralen Impulsgeber im Prozess: Führungskräfte, Expert/innen, betroffene Mitarbeiter/innen.

Ein kleiner methodischer Exkurs kann dabei behilflich sein:

The Cynefin-Framework (David Snowden)

„Das Cynefin-Framework stützt sich auf Forschungen aus der Theorie komplexer adaptiver Systeme, Kognitionswissenschaft, Anthropologie und narrativer Muster sowie der evolutionären Psychologie. Es „untersucht die Beziehung zwischen Mensch, Erfahrung und Kontext“ und schlägt neue Wege vor für Kommunikation, Entscheidungsfindung, Richtlinienfindung und Wissensmanagement in komplexen sozialen Umfeld.“ (https://de.wikipedia.org/wiki/Cynefin-Framework)
 
Konkret:
 
  • Klassisches Projektmanagement ist bestrebt, Wirkungszusammenhänge zu vereinfachen und ihre Komplexität zu reduzieren, um sie bearbeitbar zu machen.
  • Der Cynefin-Framework stellt dagegen unterschiedlichen Ausgangssituationen im Projektkontext unterschiedliche Verhaltensempfehlungen gegenüber:



 
1. Einfache Systeme (‚obvious‘)

‚Einfache‘ Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass ihre Elemente geordnet und mit einer klar erkenntlichen Ursache-Wirkungs-Beziehung verknüpft sind. Im Fall einer Redaktion oder eines Senders betrifft dies wohl die Vielzahl der täglichen Management-Aufgaben.

Das Cynefin-Framework empfiehlt hierfür: "beobachten - kategorisieren - reagieren".

2. Komplizierte Systeme ('complicated')

Hier sind die Ursache-Wirkungsbeziehungen zwischen einzelnen Elementen nicht einfach. Sie sind meist vielfältig und zahlreich, so dass man spezielles Fachwissen benötigt und sie explizit untersuchen muss, um sie nachvollziehen zu können.
 
Das ist zumeist der Ausgangspunkt, an dem in Sendern ‚Projekte‘ ins Leben gerufen werden, um die vielfältigen Abhängigkeiten zu durchdringen und sachgemäße Lösungen zu entwickeln – etwa die Definition von IT-Schnittstellen von bislang getrennten technischen Bereichen, oder die Entwicklung eines gemeinsamen Honorarrahmens.

Die Cynefin-Handlungsempfehlung ist dementsprechend: "beobachten - analysieren - reagieren".
 
3. Komplexe Systeme (‚complex')

Komplexe Systeme sind im Gegensatz zu komplizierten Systemen ‚ungeordnet‘, also ohne sichtbare oder analytisch nachvollziehbare Ursache-Wirkungsbeziehungen, so dass sie nur im Rückblick erkannt werden können.

Das ist – bezogen auf unser Thema – immer dann gegeben, wenn viele ‚komplizierte‘ Systeme miteinander in Bezug gesetzt werden: Die bisherigen journalistischen, organisatorischen und technischen Abläufe in mehreren Redaktionen und Abteilungen, die damit verbundenen jeweiligen Führungs-, Entscheidungs- und Organisationsmodelle, das Selbstverständnis und die Bedürfnisse der vielen handelnden Mitarbeiter/innen.
 
Die Anwendung herkömmlicher Analysen und Modellen wie bei ‚komplizierten‘ Systemen führt hier zum Scheitern – die Interdependenzen sind zu vielfältig.

Ein reales Beispiel:
 
Um die geeigneten Workflows für einen neuen Newsroom zu analysieren, hat das Projektteam eines Senders alle beteiligten Redaktionen untersucht und ihre ihre jeweils spezifischen Workflows beschrieben. Anschließend sollten die Redaktionen benennen, welche Elemente davon ‚essenziell‘ für die Sendesicherheit und dadurch ‚unantastbar‘ seien. Im Ergebnis wurden von den Betroffenen 95% der individuellen Workflows mit einem solchen Verbotsschild markiert. Punkt.

Die Projektgruppe ist mit diesem ‚komplizierten‘ Verfahren m. E. vor allem deshalb gescheitert, weil sie die vielen Abhängigkeiten innerhalb der bestehenden Systeme nicht abbilden konnte, vor allem aber an der fehlenden Bereitschaft der Betroffenen, sich auf das unbekannte ‚Neue‘ einzulassen, das von anderen entwickelt werden sollte.
 
Da eine klare Analyse in komplexen Systemen nicht möglich ist, empfiehlt das Cynefin-Framework hier die Vorgehensweise "probieren - beobachten - reagieren". Dahinter steckt die Annahme, dass ein komplexes System reproduzierbare Antworten gibt, nach denen man seine Handlungen ausrichten kann. Diese ‚agile‘ Arbeitsweise hat sich inzwischen als methodischer Standard bei Produktentwicklungen etabliert.

Umgesetzt auf die Entwicklung neuer Arbeitsweisen, z.B. die Konzeption eines crossmedialen Newsrooms, bedeutet dies:

Testen!

Konkret: Neue Struktur- und Workflow-Modelle werden nicht von Redaktions- oder Abteilungsleiter/innen (bzw. deren Beauftragten) entwickelt, sondern durch die operativen Experten: CvDs, Planer, Reporter, Assistenten.
 
In einem Beispiel definierte die Geschäftsleitung eines Senders den Auftragsrahmen (Qualitätskriterien, Mengen-Output, Fokus: Stärkung der digitalen Formate) und beauftragte ein Team von ca. 40 Mitarbeiter/innen aus den beteiligten Redaktionen. Sie sollten Strukturen, Workflows, Job-Profile und Spielregeln entwickeln – nicht im Rahmen einer auf Jahre angelegten Projektgruppe, sondern in einem 5-Tages-Workshop in einer Fabrikhalle.
 
In einem ersten (auch emotional anspruchvollen) Workshop wurden erste Modell-Ideen erarbeitet, anschließend mit der Geschäftsleitung abgeglichen und in einem zweiten Workshop konkretisiert.
 
In weiteren Schritten wurden diese Modellüberlegungen in real time-Simulationen getestet und durch mehrere Sprints weiter konkretisiert.

Zugleich wurden durch diese agile Vorgehensweise die Anforderungen weiterer ‚komplexer‘ Fragestellungen geklärt: Welches Raumkonzept ist nötig, um den unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnissen gerecht zu werden? Wie muss ein Redaktionssystem gestaltet werden, das diesen neuen Arbeitsweisen bestmöglich dient?

Das Ergebnis dieses Prozesses ist nicht nur ein belastbares Workflow-Modell, sondern zugleich hoch motivierte Mitarbeiter/innen mit einem ausgeprägten Teamgeist bereits vor dem Start des Newsrooms. Es ist damit ein Referenzmodell für die Entwicklung redaktioneller Strukturen, Workflows, Rollen – für den Umgang mit ‚komplexen‘ Fragestellungen innerhalb eines Veränderungsprozesses.

4. Chaotische Systeme ('chaotic')

In chaotischen Systemen können – nach Cynefin - überhaupt keine Ursache-Wirkungsbeziehungen identifiziert werden. Auf identischen Input kann das System mit unterschiedlichen Outputs reagieren, da es sich beständig verändert.

Ein gezieltes und gesteuertes Vorgehen ist in chaotischen Systemen nicht möglich, deshalb ist hier der empfohlene Lösungsansatz: "handeln - beobachten - reagieren“.

Dieses Vorgehen bietet sich in unserem Kontext vor allem an als Strategie-Empfehlung mit Blick auf digitale Perspektiven: Anders als die relativ (!) stabilen Radio- und TV-Märkte ist der Markt für digitalen Journalismus höchst volatil: Neue Technologien machen neue Angebote möglich, ein kleiner Teil davon findet Nachfrage, entwickelt sich zum Shooting Star, kann aber nach kurzer Zeit wieder verschwunden sein.
 
Diese Systeme sind ‚chaotisch‘ – sie unterliegen zwar gewissen Spielregeln, diese sind aber weder ‚einfach‘ noch ‚kompliziert‘ und entziehen sich oft auch einer ‚komplexen‘ Entwicklungsstratgie.

5. Verwirrung ('disorder')

Der Zustand der Verwirrung besteht nach Cynefin dann, wenn unklar ist, welche Art von System vorliegt. Entscheidungsträger ziehen sich dann gern in ihre Komfortzone zurück, d.h. sie treffen Entscheidungen nur aufgrund ihrer bestehenden Erfahrungen, ohne die tatsächliche Situation zu berücksichtigen.

Ich habe diese Strategie-(Nicht)-Entscheidung über viele Jahre in Bezug auf die digitale Herausforderung für linearen Journalismus wahrgenommen. Sie ist m. E. zu einem guten Teil verantwortlich für die verpassten Chancen vieler Sender und Redaktionen.
Wie häufig diese Haltung im journalistischen Kontext heute noch gelebt wird, überlasse ich gerne Ihrer individuellen Einschätzung …






 
 


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