'Qualität' im crossmedialen Prozess
Crossmediale Veränderungsprozesse in öffentlich-rechtlichen Medienhäusern verändern bisherige Strukturen, Arbeitsweisen und Priorisierungen z.T. sehr massiv. Das führt zu Verunsicherung, die sich gerne auch in Klagen über die abnehmende „Qualität“ der entstehenden Produkte äußert.
Dieser Beitrag ist ein Versuch, diese Diskussion um „Qualität“ in einen Rahmen zu setzen, der die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs sortiert und in den Kontext von Veränderungsprozessen einordnet.
Die Kriterien und Dimensionen zur Messung von „Qualität“ im Journalismus sind sehr heterogen:
- Journalistische Qualität
- Formale, gestalterische Qualität
- Exkurs: Macher-Kriterien vs. Kunden-Kriterien
- ‚Qualität‘ als Systemleistung
- ‚Qualität‘ als Stellvertreterdiskussion
1. Journalistische Qualität
Öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten (ÖRR) sind in ihrer aktuellen Berichterstattung den Prinzipien des Qualitätsjournalismus verpflichtet, z.B.:
- Aktualität
- Relevanz
- Faktentreue, Sachlichkeit
- Sorgfalt
- Transparenz
- Verständlichkeit
- Neutralität, Unabhängigkeit
- Einordnung und Bewertung auf der Basis des Wertsystems des Grundgesetzes
- …
Diesen Prinzipien entsprechen z.B. diese Arbeitsweisen:
- Themenauswahl und Themenzugang sind orientiert am Nutzwert für die Adressaten
- alle relevanten W-Fragen beantworten
- möglichst Primärquellen nutzen
- ansonsten: zwei Quellen
- bei Konflikten unterschiedliche Positionen hören und darstellen
- Trennung von Information und Kommentar
- Auswahl geeigneter Darstellungsformen
- …
Anregungen / Argumentationshilfen:
Änderungen der Strukturen oder Arbeitsweisen tangieren diesen journalistischen Kern des öffentlich-rechtlichen Auftrags nicht. Für ÖRR gelten weiter die Prinzipien des Qualitätsjournalismus.
Gerade in Zeiten starker Veränderungen sollten Führungskräfte jedoch besonders genau auf die Einhaltung dieses journalistischen Kerns achten – als klares Zeichen für die Kontinuität in den zentralen Werten und als Orientierung für verunsicherte Kolleg*innen.
2. Formale, gestalterische Qualität
Jenseits der universellen journalistischen Prinzipien und Arbeitsweisen hat sich in allen Medien ein Kanon unterschiedlicher Formate entwickelt, die auf die spezifischen
- Nutzungssituationen
- Nutzungsfunktionen (Bedürfnis, Erwartung)
- medialen Möglichkeiten / Stärken
des jeweiligen Mediums abzielen.
Für jedes dieser Formate haben sich im Laufe der Jahre eigene, sehr spezifische Qualitätsmaßstäbe entwickelt:
Beispiel: Online-Kurzmeldung
- Nutzungssituation:
tagsüber, Smartphone-Nutzung unterwegs, kognitive Grundhaltung, kurze Aufmerksamkeitsspanne, ohne Ton- Nutzungsfunktion:
die für den Rezipienten wichtigsten Informationen zu einem Thema in knapper, klar strukturierter Form anbieten- Mediale Möglichkeiten / Stärken:
Text!
Überschrift mit der wichtigsten Information
Die wichtigsten W-Fragen beantwortet
Aufbau nach ‚inverted pyramid‘ – Das Wichtigste im 1. Satz, danach abnehmende Relevanz
…
Beispiel: TV-Magazinbeitrag
- Nutzungssituation:
abends, Sofa, lean back, passiv, Entspannungsphase, emotional empfängliche Grundhaltung- Nutzungsfunktion:
Magazin: Interessantes, Wichtiges und Unterhaltendes in einer emotional ansprechenden Mischung erhalten- Mediale Möglichkeiten / Stärken:
emotionale Aktivierung des Zuschauers
‚Starke‘ Bilder
spürbare Protagonisten, O-Töne
Dramaturgie, Entwicklung
angemessene Verteilung der Information auf Bild- und Kommentartext
…
Die gestalterische Qualität eines einzelnen Beitrags ergibt sich aus der bestmöglichen Nutzung der jeweiligen spezifischen medialen Möglichkeiten – passend zu Nutzungssituation und Nutzungsfunktion.
Da Nutzungssituationen und Nutzungsfunktionen für die unterschiedlichen Ausspielwege (relativ) stark vordefiniert sind, wird die „Qualität“ für Autor*innen und Redakteur*innen daran gemessen, wie weit den spezifischen gestalterischen Anforderungen an das (monomediale) Produkt entsprochen wird.
Anregungen / Argumentationshilfen:
Diese Begrifflichkeit von ‚Qualität‘ ist weiterhin wichtig
- im Sinne ‚attraktiver‘ und konkurrenzfähiger Produkte
- als Motivation und Orientierungsrahmen für Autor*innen
- als Bewertungskriterium für Feedback.
Die beiden genannten Kriterien bildeten – in einem langjährig stabilen Gesamtsystem - zurecht den Orientierungsrahmen für Journalist*innen in ÖRR.
Die veränderten Bedingungen des Gesamtsystems (begrenzte Ressourcen, Zunahme der digitalen Mediennutzung, …) tangieren jedoch diesen Orientierungsrahmen.
Der Begriff „Qualität“ muss nicht ersetzt, sondern ergänzt werden um weitere Kriterien, die sich aus den neuen strategischen Rahmenbedingungen ergeben (s.u.: Systemleistung).
3. Exkurs: Macher-Kriterien vs. Kunden-Kriterien
Es gibt im Journalismus kein übergreifendes gemeinsames Evaluations-Systeme für die Beurteilung von ‚Qualität‘ auf der Ebene einzelner Beiträge.
Ob ein Betrag ‚gut‘ ist, wird deshalb meist beurteilt
- auf der Basis von Reichweite
TV und Radio verfügen dazu keine ausreichend differenzierten Messverfahren – sie können bestenfalls Sendeplätze bewerten.
Online und Social Media verfügen über starke Metriken (logfiles, SoMe-Metriken), sind aber auch begrenzt in ihrer Aussagefähigkeit durch zufällige Prozesse (virale Effekte, relative Nachrichtenlage, …).
- auf der Basis eigener Qualitätskriterien
Die qualitative Medienforschung belegt, dass Kund*innen in Massenmärkten kaum eigene Kriterien für die Qualität einzelner journalistischer Produkte haben.
Der Blick auf spezifische Anforderungen der Kund*innen spielte deshalb meist kaum eine Rolle. (Dass sich das über „Design Sprints“ und intensive Medienforschung langsam ändert ist eine erfreuliche Entwicklung.)
Vielmehr entwickelten sich „Qualitäten“ meist über neue Format-Experimente, die erfolgreich waren, sich sukzessiv verbreiteten und so neue Maßstäbe setzten. (z.B. Nachrichtensprache im Radio, „Diese Formate funktionieren auf Instagram besonders gut.“, „Erfolgreiche YouTube-Videos starten meist mit dem ‚plot point‘“, …).
Wenn wir über „Qualität“ auf Beitragsebene reden, dann bezieht sich das demnach oft nicht auf klare Reichweiten- oder Kunden-Impulse, sondern zumeist auf Kriterien, die von ‚Machern' entwickelt und in Redaktionshandbüchern festgeschrieben wurden, z.B.:
- „Beide Positionen in einem Konflikt müssen formal gleich dargestellt werden!“,
- „Ein Experte muss mindestens einen Doktor-Titel tragen!“,
- „Wir brauchen in jedem Stück einen Protagonisten!“
Das Spektrum der Formensprache und gestalterischen Möglichkeiten hat sich in den letzten Jahren deutlich erweitert – vor allem durch erfolgreiche Beispiele in der digitalen Welt.
Ich vermute, dass sich in vielen Redaktionen Qualitäts-Kriterien verfestigt haben, die rein aus der Sicht der Redakteur*innen formuliert werden, aber keine Begründung durch einen journalistischen oder kundenorientierten Auftrag haben.
PS: Oft sind es die Kolleg*innen, die lange Jahre erfolgreich monomedial in einem definierten Format-Kanon gearbeitet haben, die sich als ‚Wächter‘ dieser ‚traditionellen‘ Qualitäten zeigen.
Anregungen / Argumentationshilfen:
Vor allem in langjährig etablierten Redaktionen braucht es einen Innovations-Diskurs zur Frage, ob bzw. wie etablierte Formate und Qualitätskriterien weiterhin dem journalistischen Ziel entsprechen – oder wie sie weiterentwickelt werden können / müssen um neue / jüngere Zielgruppen zu erreichen.
Von besonderer Bedeutung ist dabei die Diskussion um die Gewichtung von Reichweiten-Zielen vs. ‚Beitrags-Qualitäts‘-Zielen.
4. ‚Qualität‘ als Systemleistung
Der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat sich - aufgrund komfortabler Ressourcenausstattung und unumstrittener Existenzberechtigung - lange Zeit auf die beiden Kriterien
- Journalistischer Auftrag und
- Beitragsqualität
fokussiert.
Durch die Entwicklungen der letzten Jahre
- rückläufige Reichweiten im Linearen (Cash Cow)
- Verschiebung der Mediennutzung in Richtung ‚Digitales‘ (low performer)
- Überalterung der Nutzer im Linearen
- begrenzte Ressourcen (kaum Beitragserhöhung)
hat sich (für alle ÖRR) der strategische Rahmen für die journalistische Aufgabe drastisch verändert.
Derzeit gelten diese Ziele für die meisten Sender:
- Digitale Reichweite massiv erhöhen, um jüngere Zielgruppen zu erreichen.
- Die Reichweite der linearen Ausspielwege möglichst halten.
Dieser neue strategische Rahmen bei gleichen (bzw. real sinkenden) Ressourcen erfordert neue Priorisierungen und eine andere Ressourcenverteilung in der crossmedialen Betrachtung:
- mehr Aufwände im Digitalen bei gleichen Ressourcen = weniger Ressourcen für das Lineare
- Eroberungs-Strategie für digitale Kunden = Priorisierung digitaler Produkte in den Workflows
- Ressourcenbedarf für den Umbau des Hauses sichern (Qualifizierung, Onboarding, usw.)
Damit diese künftige crossmediale Arbeitsweise funktionieren kann, braucht es neue ‚Qualitäten‘ im crossmedialen Gesamtsystem der ÖRR:
- Gemeinsam getragenes Ziel: ein auch digital leistungsfähiger Sender
- gemeinsame Arbeitsweisen – weg von der bisherigen Fokussierung auf den jeweiligen Ausspielweg oder die eigene Sendung hin zu gemeinsamer Verantwortung
- ‚Teilen‘ – von Wissen, Kompetenzen, Material, Ressourcen
- Effizienz – kostengünstig produzieren
- ‚Lerngemeinschaft‘, temporäre Fehlertoleranz
- …
Anregungen / Argumentationshilfen:
Für einen Erfolg des (notwendigen) Strategiewechsels eines Senders braucht es im Team ein verändertes Verständnis von ‚Qualität‘.
Journalistische Qualität und Beitragsqualität müssen ergänzt werden durch eine ‚Systemqualität‘, in dem auch die langfristigen Erfolgsfaktoren für einen zukunftsfähigen Sender Berücksichtigung finden.
- Die hohe journalistische Qualität entspricht sehr wahrscheinlich dem Selbstverständnis der Mitarbeitenden, ist Kern von Selbstverständnis und Auftrag der Sender und darf deshalb nicht angetastet werden.
- Operative Entscheidungen und Bewertungen zu Beiträgen dürfen künftig nicht allein unter dem isolierten Blick isolierter monomedialer Beitragsqualitäten getroffen werden, sondern stehen immer im Kontext der ‚systemischen‘ Ziele:
- Wie zahlt das auf unsere gemeinsamen Ziele ein?
- Wie können unsere strategischen Zielgruppen besser erreicht werden?
- Wie bringt es das ganze Haus voran?
- Wie können wir unsere Prozesse effizient gestalten?
- ...
Konflikte sind in dieser Neu-Priorisierung unvermeidlich, weil unterschiedliche Qualitätsbegriffe sichtbar werden und mit individuellen Präferenzen kollidieren. Sie sollten bewusst genutzt und gestaltet werden zur Schärfung eines neuen, gemeinsamen Qualitäts-Verständnisses.
5. ‚Qualität‘ als Stellvertreterdiskussion
Diskussionen um ‚Qualität‘ sind ein verbreitetes Phänomen in Veränderungsprozessen:
Langjährig gelebte Orientierungsrahmen (Teams, Produkte, Priorisierungen) werden infrage gestellt oder aufgelöst und sorgen für Verunsicherung: „Was ändert sich für mich?“, „Was genau ist jetzt meine Aufgabe?“, „Was gilt weiter und was verändert sich?“, „Woran messe ich meinen / unseren ‚Erfolg‘?“.
Jenseits der fachlichen Herausforderungen auf der oben beschriebenen Sachebene hat diese Diskussion meist auch eine Prozess-Dimension – in der Literatur gern oberflächlich als ‚Widerstand‘ bezeichnet.
Die Frage nach der ‚journalistischen Qualität‘ kann tatsächlich der Sorge um den möglichen Verlust eines hohen Wertes entspringen: Für viele Mitarbeitende wie auch für den gesamten Sender ist ‚Qualitätsjournalismus‘ Teil der eigenen Identität. Würde dieser Wert und Anspruch aufgegeben, würde der eigenen Identität die Grundlage entzogen.
Aufgabe des Führungsteam in diesem Kontext ist, das gemeinsame Wertsystem zu betonen und seine weitere Gültigkeit auch zu belegen.
In der folgenden Darstellung ist dies der Quadrant 2:
„fachlich überzeugen, Vorbehalte ernst nehmen“
(nach https://projektmanagementhandbuch.de/soft-skills/umgang-mit-widerstand-im-projektmanagement/ )
Kolleg*innen, die (aus welchen Gründen auch immer) dem Prozess abwartend, ängstlich oder abwehrend gegenüberstehen, finden manchmal keinen konkreten fachlichen Ansatzpunkt für ihr Unbehagen – zu finden in Quadrant 3.
In solchen Situationen bietet sich die Stellvertreter-Diskussion an:
Unbehagen wird nicht direkt geäußert, sondern ‚verpackt‘ in ein kognitives Thema – die Frage / Sorge nach der ‚Qualität‘ ist dafür typisch.
Unbehagen wird nicht direkt geäußert, sondern ‚verpackt‘ in ein kognitives Thema – die Frage / Sorge nach der ‚Qualität‘ ist dafür typisch.
Quadrant 2 und 3 zu unterscheiden ist dabei nicht immer leicht.
Ich empfehle, in Gesprächen zunächst gedanklich von Quadrant 2 auszugehen.
Hinweise, die darauf deuten, dass eine/e Kolleg/in sich eher in Quadrant 3 bewegt:
- Der Mitarbeiter hat das Informationsangebot nicht genutzt, ist wenig informiert.
- Diskussion wird vermieden, Gegenargumente werden nicht wahrgenommen.
- Es werden von einer Person immer wieder neue Bedenken hervorgebracht.
- Bereits ausdiskutierte Themen werden immer wieder neu vorgebracht.
- ...
In solchen Situationen führt die kognitive Diskussion nicht weiter.
Hier ist es sinnvoller, das direkte Gespräch zu suchen und auf der Beziehungsebene zu arbeiten, die ‚wahren‘ Motive zu ergründen und ggf. damit Lösungen zu finden.
Siehe dazu auch diese Abbildung des ‚Eisbergs‘:
Change-Kurve (nach Kübler-Ross)
In diesen Gesprächen sollte darauf geachtet werden, dass zentrale Elemente (Ziele, Arbeitsweisen, Prinzipien, ...) der neuen Arbeitsweisen nicht zur Disposition gestellt werden.
Gerade in der Zeit um die Einführung sind klare Rahmensetzungen für das Gelingen des Vorhabens von zentraler Bedeutung (rote Fläche).
(Eigene Darstellung nach: https://boldcollective.de/change-kurve/)